Teil 4

Koji kommt im "Vollen Becher" an. Er hatte einen äußerst angenehmen Nachmittag mit der hübschen Tochter eines Seidenhändlers. Dieses Mädchen mußte mit einem Kraken verwandt sein, er war kaum von ihr losgekommen. Noch bevor er seinen wohlverdienten Wein bestellen kann, fängt ihn Shibuya ab. "Linus und Ikaru waren hier." "Na und?" "Sie haben den Burschen von neulich." "Izumi?!" "Ich habe keine Ahnung, wie er heißt, Koji, aber sie haben ihn gerade eben weggeschleppt. Ikaru hatte wieder seinen irren Blick, für den er in der ganzen Stadt gefürchtet ist." Koji's Gedanken rasen. Sie haben hier nur ein gutes Versteck und das liegt in den Katakomben. "Shibuya, bereite unser Gästezimmer vor. Ich bringe jemanden mit. Und trommel die Männer zusammen, wenn alle Stricke reißen, gibt es einen Kampf." "Koji, bist du noch bei Trost? Du bist hier in der Stadt als Dieb bekannt. Wenn die Leute merken, das du mehr bist, ist deine Tarnung komplett verloren." Koji starrt ihn mit einem eisigen Blick an, Shibuya sinkt in sich zusammen. "OK, wie du willst. Aber sei wenigstens unauffällig." Koji geht in seinem Unterschlupf vorbei. Er zieht sich eilig um und packt seine komplette Diebesausrüstung ein. Er wird heute schließlich einen Menschen stehlen, dafür will er gut gerüstet sein. Koji tastet sich vorsichtig durch die dunklen Gänge. Es riecht nach Moder und Ratten. Er hört Stimmen vor sich. Koji verschmilzt mit der Wand, sein schwarzer Anzug macht ihn zusammen mit der dunklen Maske hier unten praktisch unsichtbar. Zwei Männer von Linus' Bande gehen kaum eine Armeslänge entfernt an ihm vorbei. Aus den Gesprächsfetzen kann er schließen, das Linus in eine andere Stadt will mit seinen Leuten. Dafür braucht er Geld und dafür, nur dafür, lebt dieser Reiter noch. Koji's Herz rast. Er gleitet weiter. Vor ihm befindet sich eine massive Holztür, verriegelt, unbewacht. Als er seine Deckung verlassen will, poltert aus einem anderen Gang jemand geräuschvoll heraus. Ikaru! Der große Mann sieht sich um und öffnet, plötzlich ganz leise, die schwere Holztür. Genauso leise schließt er sie wieder hinter sich. Was immer er vorhat, es ist nichts gutes. Koji preßt seine Hand an die Stirn. Er braucht jetzt einen guten Einfall und das schnell! Inzwischen begutachtet Ikaru zufrieden sein Opfer. Der Bursche wirft ihm eine ganze Batterie finsterer Blicke zu und zieht sich, soweit es seine Fesseln erlauben, zurück. Er legt seine Hand auf einen schlanken Oberschenkel und packt mit der zweiten das Kinn, dreht es zu sich. Gerade als er sich vorbeugt, um ihn zu küssen, scheint vor der Tür die Hölle loszubrechen. Es knallt und tost, als ob eine ganze Armee im Anmarsch ist. Mit einem Fluch reißt sich Ikaru los und stürmt zur Tür. Es ist nichts im Gang zu sehen. Er geht einige Schritte in die Dunkelheit, aber alles ist wieder still. Mit der Ausnahme der anderen Räuber, die sich jetzt einfinden, weil der Lärm sie hergelockt hat. "Hier sind Eindringlinge. Findet und tötet sie!" Die Männer verstreuen sich sofort in die verschiedenen Gänge. Ikaru grinst böse. Jetzt, wo alle abgelenkt sind, kann er sich in Ruhe um den Burschen kümmern. Er betritt den dunklen Raum und erstarrt. Der Junge ist weg! Ikaru sieht sich um, aber der Raum ist leer. Fluchend stürzt er in den nächstbesten Gang, der Bursche muß wieder her! Linus hat bereits einen Boten mit der Lösegeldforderung zum König geschickt. Mal ganz abgesehen von seinen eigenen Plänen ... Zwei schlanke Gestalten lösen sich langsam von einem schmalen Felssims oberhalb der Tür. Sich in dem rissigen Gestein unter der Decke festzukrallen war mühsam, aber die einzige Chance. Koji schaut Izumi besorgt an. "Bist du OK?" Izumi nickt kurz."Bring mich nur hier raus, dann geht es mir bestens. Wie hast du ihn eigentlich rausgelockt?" Koji grinst. "Feuerwerkskörper. Ich hatte noch ein paar in der Tasche. Sie machen einen Heidenlärm, genau das richtige für ein kleines Ablenkungsmanöver." Er wendet sich zum Gehen. "Los komm. Wir haben wenig Zeit, bis sie zurückkommen." Koji verschwindet in einem der dunklen Gänge, Izumi folgt ihm dichtauf. Es ist stockfinster, sie haben keine Fackel um nicht entdeckt zu werden. Koji kennt sich in diesen Gängen perfekt aus, er kann sich selbst in völliger Finsternis zurechtfinden. Schon nach wenigen Schritten hat Takuto komplett die Orientierung verloren. Ihm schaudert. Er war noch nie so eingesperrt. Er ist es gewohnt, auf seinem Drachen über den Wolken zu schweben. Hier ist es wie in einem Grab. Takuto schaudert noch mal und schließt enger zu Koji auf. Er kann ihn in der Dunkelheit kaum wahrnehmen. Plötzlich scheinen sie an eine Weggabelung zu kommen, die Wand, an der er sich entlanggetastet hat, ist weg. Takuto bekommt Panik, er kann Koji nicht mehr hören, es hallen fremde Geräusche im Dunkel wieder und er kann nichts sehen. "Koji?! KOJI?!!" "Psst, willst du die ganze Bande auf uns hetzen? Ich bin hier." Takuto tastet blindlings um sich, bis er einen Arm fühlt. Er reißt Koji geradezu an sich und preßt sich fest an den anderen Körper. Koji hält den zitternden Jungen im Arm, dessen Leib vor Angst bebt. Er streicht verlegen über seinen Kopf, wühlt sacht in dem dichten Haar. "Wir sind hier bald heraus, die Dunkelheit geht vielen an die Nerven. Noch ein paar Schritte, dann bist du an der frischen Luft." Takuto braucht einige Augenblicke, um die Panikattacke niederzukämpfen. Er läßt Koji los und dreht sich verlegen zur Seite. Das einzig Gute an der Dunkelheit ist, das Koji nicht sieht, wie rot er geworden ist. Koji nestelt im Dunkel an seinem Gürtel, bindet Takuto etwas um. "Halte dich an dem Schal fest, dann verlierst du mich nicht. Wir sind gleich da." Das "Gleich" zieht sich etwa eine halbe Stunde lang. Für Takuto ist es die längste halbe Stunde seines Lebens. Er muß immer wieder seine Panik niederschlagen und hält sich krampfhaft an dem dünnen Seidenschal fest, der ihn mit Koji verbindet. Schließlich steigen sie eine schmale Holzleiter hoch und durch eine Bodenluke in einen Kellerraum. Weinfässer stehen an den Seiten, überall sind Regale mit Fässern und Flaschen, Kerzen brennen auf einem kleinen Tisch. Ein riesiger Mann, größer noch als Ikaru, steht an der Seite und hilft ihnen hoch. Takuto fliegt an seiner Hand geradezu aus dem Loch, für diesen Hünen scheint er kein Gewicht zu haben. Der Riese stellt eine Weinflasche und zwei Krüge auf den Tisch. "Gut, Nuruk, du kannst gehen. Ich melde mich, wenn ich dich brauche." Der Mann nickt und verläßt ohne ein Wort den Raum. Koji schenkt ihnen beiden ein. "Hier, auf den Schreck." Takuto stürzt einen großen Schluck hinunter, der Marsch durch die Dunkelheit hat ihn mitgenommen. Den ersten Krug leeren sie schweigend. "Du hast mir jetzt schon zum zweiten mal das Leben gerettet." Koji zuckt zusammen, die Worte kamen ohne Vorwarnung. "Du hast mich belogen und du rettest mein Leben. Erklär' mir das. Und behaupte nicht, du seiest 'Geschäftsmann', klar?" Er seufzt. "Ich bin ein Dieb, Izumi. Aber belogen habe ich dich nicht. In Yakazu ist Dieb ein anerkannter Beruf und jeder gute Dieb gilt als ehrbar. Die Verhältnisse sind hier nun mal etwas anders als am Kaiserhof, in der Wüste oder im Gebirge. Dies hier ist eine Handelsstadt, mit allem was dazugehört." Takuto spielt mit seinem leeren Krug. Die nächsten Worte sind kaum zu verstehen. "Wir werden sehr bald zurückfliegen. Vielleicht schon morgen, auf jeden Fall innerhalb der nächsten drei Tage. König Boltis betrachtet unseren Auftrag als erledigt. Jetzt will er uns nur noch loswerden. Ich werde keine Gelegenheit mehr haben, mich bei dir zu revanchieren." Dunkle, schimmernde Augen schauen unter Ponyfransen hervor. Koji fühlt einen Stich. Er muß sich zusammen reißen, um den Burschen nicht an sich zu pressen. Er versucht, das Thema zu wechseln. "Was hat Linus vor?" "Er wollte Lösegeld für mich. Morgen früh soll die Übergabe sein. Aber er hat nichts mehr einzutauschen. Ob er es trotzdem versucht?" "Linus ist das zuzutrauen. Er wird sich irgendjemanden von der Straße schnappen und als dich ausgeben. Wie ich König Boltis kenne, wird er kaum riskieren, einen Drachenreiter aufs Spiel zu setzen und brav zahlen. Das dumme Gesicht, wenn er feststellt, das er betrogen wurde, würde ich zu gerne sehen." "Magst du ihn nicht?" "Doch, er ist ein guter König. Aber ich liebe es, ihm hin und wieder einen Streich zu spielen. Bisher hat er das auch sehr sportlich genommen." Takuto zuckt mit den Schultern. "Tetsu`ko wird das nicht so sehen. Wenn dieser Linus mit einer anderen Person bei der Übergabe auftaucht und er ist in der Nähe, gibt es Tote. Drachen lassen sich nicht beschwindeln. Ich werde heute abend zurückgehen, dann können wir morgen früh Linus eine nette Überraschung bereiten." Koji ist sich da nicht so sicher. Linus ist einfach zu gerissen. Außerdem will er nicht, das Izumi mitten in der Nacht zum Palast zurückkehrt und dabei vielleicht Ikaru in die Hände läuft. Verflucht, er will überhaupt nicht, das der Junge weggeht, egal wohin. Aber die Idee mit den Toten gefällt ihm. Einen wütenden Drachen hat Linus kaum auf seiner Rechnung .... "Willst du noch etwas trinken?" "Ja, gern." Koji angelt eine neue Flasche, füllt beide Krüge bis zum Rand. Unbemerkt von Izumi gibt er in den einen ein schwarzes Pulver, vermischt es mit dem Wein. "Hier, koste mal den." Izumi schnuppert an dem Wein, dann nimmt er einen Schluck. "Mmh, er ist gut." Er trinkt einen zweiten, tiefen Schluck. Koji nippt an seinem Krug, beobachtet den Burschen gespannt. Langsam fällt der Krug aus Izumis Hand, er schwankt, tastet nach einem Halt. Koji fängt ihn auf und läßt ihn neben den Tisch gleiten. Izumi schläft bereits fest. Lotusdrogen sind teuer, aber wirkungsvoll. Er wird mindestens einen Tag und eine Nacht schlafen, absolut traumlos und ohne Erinnerung an diese Zeit.