Teil 6

Vor Morgengrauen betritt Koji leise den Raum. Er beugt sich über Takuto, berührt seine Schulter. "Zeit zum Aufstehen. Du mußt zurück." Izumi schält sich stumm aus den Decken, zieht sich an. Sie tappen durch den dunklen Gang, im Weinkeller steht ein karges Frühstück. Beide kauen schweigend an ihrem Brot. Koji bricht die Stille. "Ich bringe dich zu deinem Drachen zurück, das Viech hat dich wirklich vermißt." "Mhmm." "Izumi ... Es gibt keinen Grund, so zornig zu sein. Dir ist nichts passiert. Es ist gestern einfach über mich gekommen. " Zwei leuchtende, braune Augen starren zornig in seine blauen. "Ich glaube dir kein Wort. Du wolltest mich benutzen wie ein Hafenmädchen, mehr nicht. Bring mich an die Oberfläche, danach will ich dich nicht mehr sehen." Etwas in Koji zerbricht, er kann fühlen, wie sich sein Innerstes umkehrt. Hilflos greift er nach Izumi, versucht über sein Gesicht zu streicheln. Izumi schlägt die Hand weg, steht auf. Auch Koji erhebt sich. Unvermittelt schlingt er seine Arme um Izumis Körper, preßt ihn fest an sich. "Ich liebe dich, ob du es glaubst oder nicht. Wenn du deinen Drachen nicht so lieben würdest, ich ließe dich nicht gehen." Sobald sich sein Griff lockert, weicht Izumi zurück. "Es gibt nichts anderes für mich. Ich bin bald im Hort und du nur noch eine Erinnerung. Vergiß es einfach." Koji verläßt schweigend den Weinkeller, steigt eine verwinkelte Treppe empor. Nuruk und Izumi folgen ihm. Sie erreichen den Palast nach kurzer Zeit. Kaum sind sie in Sichtweite des Drachenpferchs ertönt ein lautes Fiepen und Tetsu`ko schießt auf die kleine Gruppe zu. Mit einem geschickten Schlag seines Schwanzes fegt er Koji und Nuruk beiseite und stürzt sich auf Izumi. Für einen Augenblick sieht es so aus, als wollte er ihn niederwalzen. Im letzten Augenblick stoppt er ab und schmiegt seinen großen Kopf sanft an den Jungen. Takuto streichelt und krault ihn ohne ein Wort. Er dreht sich weg und geht zum Palast mit Tetsu`ko eng an seiner Seite, läßt seine Begleiter einfach stehen. Koji wirft ihm einen letzten Blick hinterher und verschwindet mit Nuruk in den dunklen Gassen. Keiner von ihnen hat die beiden Männer in den Schatten bemerkt, der eine mit rotem Haar, der andere ein schwarzhaariger Hüne, die die ganze Szene aufmerksam verfolgt haben ... Kapitel 5 Takutos Freunde sind sehr erleichtert, ihn wiederzusehen. Ikarus Ruf ist extrem schlecht, speziell was seine Vorliebe für grausame Spiele angeht und kaum einer hatte damit gerechnet, den Drachenreiter noch mal lebend zu Gesicht zu bekommen. Takuto ist auffallend still. Er schildert seine Entführung ausführlich und erklärt ansonsten nur, er sei befreit worden. Kein weiterer Kommentar, egal wie sehr Hisaya und die anderen ihn drängen. Er versorgt Tetsu`ko ausgiebig und zieht sich bald in sein Quartier zurück. Am Nachmittag klopft es an seiner Tür. Als er sie öffnet ist niemand da, nur ein gefaltetes Blatt Papier liegt auf dem Boden. Takuto hebt es auf und öffnet es. In dem Papier liegt eine einzelne, weißblonde Haarsträhne. Ein paar Tropfen Blut und eine kurze Notiz vervollständigen die Botschaft. "Auf der Paßhöhe heute abend. Komm allein." Takuto zerknittert das Blatt langsam. Wer immer es ist, er hat Koji! Takuto überlegt. Es gibt viele Gründe, diese Botschaft zu ignorieren oder die Wachen zu verständigen. Er ist sich sicher, daß es eine Falle ist. Er weiß auch nicht, ob Koji noch lebt. Es wird schwierig, allein mit seinem Drachen irgendwo hinzufliegen, seine Kameraden werden es bemerken. Aber wenn es eine Chance gibt, Koji zu befreien, wird er sie nutzen. Das ist er ihm einfach schuldig. Takuto dreht sich entschlossen um. Während er seine Armbrust prüft, reichlich Bolzen dafür einsteckt und Verbandsmaterial vorbereitet, schickt er Stoßgebete zu jedem Gott, der sie hören mag, das Koji noch lebt. Und das Ziehen in seinem Magen sorgt dafür, daß er seine Vorbereitungen in Rekordzeit beendet. Kaum eine Stunde später tritt Takuto in seiner Lederrüstung und in voller Bewaffnung an den Pferch. Hisaya stutzt. "Was hast du vor? Willst du einen kleinen Krieg führen?" "Nein, mir ist nach einem Patrouillenflug. Ich will nur gerüstet sein, falls mir dieser Ikaru noch mal über den Weg läuft." Hisaya wirkt nicht überzeugt. "Bist du sicher, das du alleine fliegen willst? Letztesmal haben sie uns mit diesen riesigen Wurfmaschinen sehr überrascht. Ich kann dich gern begleiten. Außerdem - unser Auftrag ist beendet. Morgen fliegen wir zurück zum Hort. Warum willst du jetzt noch patrouillieren?" Takuto lächelt beruhigend. "Nur so. Ich war zwei volle Tage nicht in der Luft, da ist so ein kleiner Rundflug genau das richtige. Mach dir keine Gedanken, in ein paar Stunden bin ich zurück." Hisaya zuckt die Schultern. Er traut dem Braten nicht, will Takuto aber auch den Ausflug nicht verbieten. 'Vielleicht braucht er das, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.' "In Ordnung. Sei aber vor dem Abend zurück." Takuto nickt dankbar und ruft Tetsu`ko. Der Drache kommt bereitwillig und läßt sich aufzäumen. Bald schwebt Takuto über die Stadt in Richtung Sturmberge. Normalerweise genießt er das Fliegen. Diesmal sind seine Gedanken ganz woanders. Tetsu`ko hat bereits die Berge erreicht, Takuto hält ihn etwas seitlich vom Bergpfad. Der Drache wendet seinen Kopf und sieht ihn aus einem Auge fragend an. "Koji ist gefangen worden. Wir werden ihn befreien. Du ..." Bevor Takuto den Satz beenden kann, spürt er einen heftigen Ruck in seinen Zügeln. Tetsu`ko hat das Gebiß zwischen die Kiefer geklemmt und ändert den Kurs - Richtung Hort. Takuto versucht seinen Drachen zu lenken, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen - kein Erfolg. Tetsu`ko stellt sich blind und taub, er weigert sich, irgendeinen Befehl auszuführen. Takuto ist fassungslos. Noch nie hat der Drache - hat überhaupt einer der Drachen - seinem Reiter den Dienst verweigert. Ja, ein nicht eingespieltes Team hat Meinungsverschiedenheiten. Die kleinen Kämpfe am Anfang einer Partnerschaft, das ist normal. Aber komplette Verweigerung - niemals. Egal. Er wird sich nicht einmal von seinem Drachen davon abhalten lassen, Koji zu retten. Die Paßhöhe ist in Sichtweite, vielleicht 2000 Schritt entfernt. Unter sich sieht Takuto einen kleinen Bergsee schimmern. Er greift entschlossen nach seiner Armbrust und zieht die Füße aus den Bügeln. Izumi stellt sich auf den Rücken seines Drachen und stößt sich ab. Noch im Fallen hört er einen entsetzten Aufschrei. Tetsu`ko wendet in der Luft und stürzt ihm nach. Aber bevor der Drache ihn abfangen kann, schlägt Takuto hart auf das Wasser auf und taucht tief in den Bergsee ein. Er schafft es, sich mit seinen Waffen an das Ufer zu retten und versteckt sich vor seinem Drachen unter der Uferböschung. Takuto ist sich nicht sicher, ob Tetsu`ko ihn gehen läßt, wenn er ihn sieht. Drachen können extrem dickköpfig sein. Das das auch für ihn zutrifft, ignoriert er erst mal. Tetsu`ko sucht verzweifelt den See ab, immer wieder stößt er den kleinen Fieps-Laut aus, mit dem er normalerweise Takuto begrüßt. Als er den Jungen nicht finden kann, hebt er vom Ufer ab und schraubt sich langsam in die Luft. Tetsu`ko fliegt mehrmals über den See, bis er schließlich in Richtung Yakazu abdreht. Takuto klettert naß und frierend an Land. Er hat glücklicherweise noch seine Waffen und sein Messer. So schnell es geht, klettert er in Richtung der Paßhöhe. Fliegen war einfacher - er flucht, als er immer wieder abrutscht und sich im Geröll festklammern muß. Der Lärm könnte Tote wecken! Seine Hände sind blutig, die weichen Handschuhe sind für eine Klettertour einfach nicht geeignet. Schließlich ist er in Sichtweite. Die Sonne ist schon untergegangen, die Schatten der Felsen sind lang und dunkel. Vor sich kann er einige Ruinen erkennen. Er spannt die Armbrust und pirscht sich behutsam weiter vor. Vor sich hört er Stimmen, kann die Richtung nicht genau bestimmen. Er schleicht um eine Felsnase und sieht plötzlich den Lichtschein eines Lagerfeuers. Takuto hebt die Armbrust und tritt vor. Am Feuer sitzt keiner. Eine Falle! Er ist vor den Flammen perfekt zu erkennen! Als er seinen Fehler begreift, ist es auch schon zu spät. Aus dem Nichts trifft ihn ein Geschoß am Kopf. Izumi bricht zusammen, ohne seine Gegner auch nur gesehen zu haben.